Auf dem Weg vom Einkaufen nach Hause wurde ich von zwei wild heulenden Polizeiwägen überholt - an sich und in einer Großstadt nichts aufregendes, hier, auf dem Land, hingegen schon etwas besonderes. Nach dem Abbiegen von der B2 rollte ich gemütlich auf der Hauptstrasse die Senke hinab ins Dorf. Kurz hinter der ersten Abzweigung im Dorf dann: ein querstehender Polizeiwagen, drei Hütchen auf der Straße - eine Sperre. In München war tags zuvor eine Straße gesperrt worden wegen austretendem Gas, und da die Gasheizung auch auf dem Lande immer mehr die Ölheizung verdrängt dachte ich das nahe liegende, irgendwo ist Gas ausgetreten und die Polizei hat vorsorglich die Straße gesperrt. Da mein Haus aber auf der Hauptstraße ist, rund 150 Meter hinter der Absperrung, beschloss ich einen Schleichweg zu verwenden. Die erste Abzweigung innerhalb von Mittelstetten führt zu einem kleinen Wertstoffhof, ein mit Holz umzäunter Bereich in dem Altpapier-, verschiedene Glas- und ein Dosencontainer stehen. Kurz bevor man zu diesem Wertstoffhof (klein) kommt, wird die Straße zum ungepflasterten Feldweg an dem leider ein Schild hängt: Motorräder und PKW verboten. Nun waren noch zwei kleine Einzelheiten zu beachten. Gegenverkehr auf dem Feldweg - ein grauer Sharan oder Galaxy oder wie diese Kutschen auch heißen mögen, kam mir entgegen und am rechten Straßenrand, ungefähr 15 Meter hinter mir, standen zwei Polizeiwägen, mehrere Polizisten sowie eine Schar - naja, sagen wir ungefähr fünf - Kinder oder Jugendlicher, gemeinsam in ein Gespräch verwickelt. Ich sah das Schild, die beiden Polizeiautos und dachte mir flugs: Ach, vielleicht fahr' ich da jetzt besser nicht lang. Sondern wende mein Auto und versuche mein Glück woanders. Ich habe vergessen zu erwähnen, das die mir entgegenkommende Familienkutsche zwei weitere Kinder, die in die gleiche Richtung gingen, überholten. Als ich meine Wende abgeschlossen hatte ging plötzlich alles furchtbar schnell.
Die komische Familienkutsche war schon außer Sichtweite, ich stand da, beobachtete die Kinder (oder Jugendlichen, aber irgendwie schien mir diese Unterscheidung nicht weiter wichtig) und überlegte, ob ich denn wieder zurück auf die Bundesstraße fahren sollte und ein Dorf weiter den Pfad zu meinem Haus suchen solle oder einfach noch einige Minuten warten in der Hoffnung, dass die Polizei die Straßensperre aufhebt und ich die 200 Meter nach Hause fahren kann ohne einen kilometerweiten Umweg in Kauf zu nehmen. Während ich noch nachdachte wurden die Polizisten auf die beiden Jugendlichen aufmerksam. Plötzlich brüllt einer der beiden Jugendlichen so etwas wie "Lasst mich in Ruhe" und um diesem Verlangen Nachdruck zu verleihen hob er seinen Arm, in der Hand ein Pistole, und schoss mehrfach in Richtung Polizei. Das war dann der Moment in ich beschlosss meinen Kopf wenigstens auf die Höhe des Armaturenbrettes zu bringen. Die Polizei rief mehrfach, der Junge solle die Waffe fallen lassen. Was mir durch den Kopf schoss - zum Glück kein Projektil - war: Warum quasseln die noch? Der Typ schießt weiter, nach weiterem vergeblichen Rufen schießen die Polizisten zurück. Wie im wilden Westen. Kompletter Irrsinn. Ich verhalte mich weiterhin so unauffällig wie möglich, sonst könnte noch jemand auf die Idee kommen mich als Geisel zu nehmen, solche Ideen kommen mir. Schließlich ist Magazinwechsel angesagt - die einzigen, die ich sehe sind die Polizisten, aber da die wilde Schießerei noch weitergeht muss wohl auch der Junge mal ein Magazin gewechselt haben. Nach einem endlos dauernden Schusswechsel ist ein Augenblick Ruhe, ein Polizist der sich hinter einem Wagen versteckt hat winkt mir zu. So als könnte ich mich aus dem Schussfeld begeben. Nach einer kurzen Schrecksekunde, ob ich es denn wagen soll, starte ich mein Auto - es springt zum Glück sofort an - und fahre vorsichtig und rasant los, zwischen einem geparkten roten Passat und einem Polizeiwagen entlang und die nächste Strasse hinauf. Nach nur 75 Metern halte ich wieder. Die Schießerei geht weiter, nur noch sporadisch. Die Leute sind aus ihren Häusern gekommen um zu sehen was los ist. Mit lautem Gebrüll weist einer der Polizisten sie an, wieder in ihre Häuser zu gehen. Mit zitternden Händen starte ich erneut um einige Meter weiter in eine Einfahrt zu fahren. Es fallen noch einige Schüsse, dann ein Schrei - und Ruhe. Das ist der Moment, in dem ich beschliesse nach Hause zu fahren. Noch bevor ich wieder auf der Hauptstrasse bin wende ich erneut, lasse mein Auto stehen und gehe in Richtung Feldweg. Die Erlebnisse sind noch frisch im Kopf, obwohl das ganze wie ein Traum erscheint. So ruhig wie möglich gehe ich auf einen Polizisten zu, der bedeutet mir wegzubleiben aber ich sage, dass ich eine Aussage machen möchte. Nach einem kurzen Wortwechsel mit einem anderen Polizisten werde ich erkannt. "Das ist doch der mit dem schwarzen BMW, der mitten drin stand", ein weiterer Polizist holt einen Stift und Papier, beginnt meine persönlichen Daten aufzuschreiben. Dann wird auch dieser weggerufen und übergibt mich einer Kollegin. Der jungen Frau erzähle ich also die Geschichte, sie schreibt mit so schnell sie kann. Einer der Jugendlichen will seinen Senf hinzugeben. Sehr unpassend, findet die Polizistin und unterbricht ihn rüde. Als schließlich meine Aussage abgeschlossen ist, frage ich sie die Frage, die mir seit dem ersten Schuss auf der Zunge brennt: "War das echt?". Ein Verkehrsschild mit mehreren, etwa ein Zentimeter großen Löchern reicht mir als Beweis.
Und jetzt? Im Augenblick erschrecke ich fürchterlich wenn irgendwo jemand nur ein Stück Wäsche ausschlägt. Das Bild des Jungen: er schreit "Lasst mich in Ruhe", hebt die Pistole und schießt. Wie im Film, immer wieder dieselbe Szene. Der Polizist, hinter einem Auto kniend, wechselt das Magazin. Schießt er noch mal? Ich glaube ja. Eine Mutter, weinend, fragt einen Sanitäter warum sie nicht zu ihrem Sohn kann, die Antwort: "Weil er noch in Behandlung ist". Die Polizistin, die meine Aussage aufnimmt, sagt später "Auch für uns ist das eine Extremsituation". Wieder der Junge, wie er seine Waffe hebt. Er zielt nicht, er reißt sie nur hoch und schießt. Weiße Oberbekleidung, die Pistole sieht sehr groß aus. Die Schüsse. Meine Frau sagte später, ich habe recht unzusammenhängend am Telefon geredet, bis auf einen klaren Satz: "Ich bin hier in Mittelstetten in einer Schießerei". Jetzt kommt auch die Frage "Warum?".
Komisch
Zuerst wünschte ich mir, dass der Jugendliche, der einfach so anfing zu schießen, erschossen worden wäre. Jetzt nicht mehr. Aber mit einer Kugel im Bauch ist das Leben nicht unbedingt leichter. Im Laufe der letzten Stunden hab' ich wie ein Berserker versucht mehr darüber zu erfahren, aber außer einer Meldung auf der Internetseite irgendeiner Lokalzeitung nichts gefunden was mir helfen könnte die ganze Geschichte nachzuvollziehen.
Zur Zeit wünsche ich mir, ich könnte mich in ein Schneckenhaus zurückziehen. Aber das geht wohl nicht. Hat mich das ganze wohl irgendwie aus dem Orbit geworfen. Ich hatte ein halbes dutzend Tomaten in Dosen im Auto, ich hätte doch wenigstens mit einer davon werfen können. Statt dessen hab ich nur den Kopf eingezogen. Seitdem war ich zweimal wieder am Ort des Geschehens. Ich weiß noch nicht einmal, warum.